Identität. – Laut George Mead kann sich Identität nur entwickeln, wenn man – also das Individuum – die Perspektiven und Rollen anderer Menschen versteht und vor allem einnehmen kann. Hört sich klug an. Wenn man aber am eigenen Leib spürt, dass man diese Rollen, die einem zugewiesen werden, nicht mehr zum Selbst passen, wirbelt es ganz schön viel durcheinander. Jede junge Mutter, und sicher auch Vater, wird dieses Gefühl kennen – und die Frage „Wer bin ich überhaupt (noch)?“. Meist stellt man sich die Frage aber erst, wenn der Zusammenbruch naht.
Für viele Menschen ist Heimat an Personen gebunden, die Familie oder den Freundeskreis, an Feste und Bräuche oder eine Religion. Auch ein vertrauter Dialekt, ein Geschmack, ein Geruch oder eine Melodie können heimatliche Gefühle auslösen. Heimat ist keine konkrete Sache. Heimat ist ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, der Zugehörigkeit und Orientierung. Dieses Gefühl ist nicht zwingend an einen Ort gebunden, es kann an den unterschiedlichsten Orten entstehen. (…)
Viele geflohene Menschen haben irgendwann ein Heimatgefühl zu zwei Orten. Zum Beispiel zu Syrien und Deutschland. Man spricht dann von einer hybriden Identität.
Im Zeitalter der Globalisierung teilen zunehmend mehr Menschen diese Erfahrung. Sie verlassen ihre Heimat, um woanders zu leben. Viele von ihnen fühlen sich dann an mehreren Orten der Welt zu Hause, sie verstehen sich als Weltbürgerinnen und Weltbürger.
Der Unterschied ist, dass sie ihre Heimat freiwillig verlassen haben. Wenn man die Heimat unter Zwang verlassen muss, kann es dagegen schwerer fallen, ein neues Heimatgefühl zu entwickeln. Deshalb ist es für Geflüchtete wichtig, nicht ausgegrenzt und abgelehnt zu werden.
„Heimat und Identität“ erschienen auf bpb.de, 2017
Das Problem daran ist, ich bin zwar geflohen, aber dann gab es da diese sogenannte Wiedervereinigung. Mit der Mauer zerbrach nicht nur der eiserne Vorhang, sondern auch meine Identität. Im Westen nannten sie mich Ossi, im Osten „nicht-Zoni“. Ich war auf einmal weder West noch Ost. Ich war nirgends ganz.
Wenn meine Kinder mich heute fragen, wo ich geboren wurde, antworte ich: „Jena – aber das Land, aus dem ich komme, gibt es nicht mehr.“
Denn das, was ich mit dieser sogenannten „Wiedervereinigung“ verlor, waren:
- Meine Freunde
- Ein Teil meiner Familie
- Meinen Dialekt
- Den Geschmack meiner Kindheit
- Feste, die es im „Westen“ nicht gab
- Melodien, die ich zwar nicht benennen kann, die aber Emotionen auslösen, die ich kaum benennen kann
In einem Wort: Heimat.
Im Sommer’89. Bahnhof Jena-West. Ich kann Zeiss sehen. Und ich stelle mir vor, wenn ich meine Augen zusammenkneife, dass ich durch die Büsche da ganz hinten bis zur Felsenkellerstraße sehen kann. Ich bin gerade sechs geworden und all meine Freunde wurden gerade eingeschult. Nur ich stehe hier, mit meiner Mutter, meiner Schwester, meinem gelben Rucksack und Bär fest an mich gedrückt. Als wir in den Zug einsteigen, fahre ich mit dem Gefühl all das nie wiederzusehen. Auch nicht mit zusammengekniffenen Augen und ganz viel wünschen.
Es ist der 23. August 1989 und nichts wird so werden, wie wir es uns vorgestellt haben, noch wird etwas bleiben, wie es war.
30 Jahre später weiß ich, dass ich auf diesem Bahnsteig nicht nur meinen geliebten Onkel, meine Tante und Großmutter verließ, sondern auch meine Heimat, meine Identität. Erst als meine eigenen Kinder so alt sind, wie ich damals, begreife ich, was mir all die Jahre fehlte.
Ich realisiere, dass ich damals in einen Zug einsteige, aber nirgends wirklich ganz ankommen werde.
Links zum Text:
- Soziopod Academics 003: Gesellschaft und Identität von George Herbert Mead auf Soziopod.de
- Oehl – „Wolken“ auf Spotify
Auch meine Wände rücken längst auseinander in unserem Haus
Oehl mit „Wolken“
Und meine Füße spür ich bei jedem Schritt, leg ihn zweimal zurück
Da hinterm Herd wo jetzt kein Sofa mehr steht, konserviert sich kein Glück
Such ich in jedem Winkel nach einer Tür find ich nicht mehr heraus
Und diese Wolken haben’s mir angetan
Sie halten mir die Sonne vom Leib
Wenn sie dann fort sind, ist es schon dunkel hier
Dann werd‘ ich wieder zu Staub bei dir