Es ist Sommer. Die Hitze schwirrt. Die Straßen glühen. Und mit jeder Faser meines Körpers spüre ich, dass sich einfach alles verändern wird. Mit gerade einmal sechs Jahren weiß ich, was es heißt, zu vermissen. Ich weiß, was es heißt, wenn jemand oder etwas anderes Macht über das eigene Leben hat.
Mein Vater ist schon seit zwei Jahren im Westen. In meiner Erinnerung sitzen wir, meine Eltern, meine Schwester und ich, in unserer kleinen Küche. Mein Vater nimmt mich auf seinen Schoß und erklärt uns, dass er für einige Zeit mit seinen Eltern verreisen wird – zu einer Beerdigung in die Nähe von Dormagen, irgendwo im Westen. Er reist also mit einer Genehmigung für die Dauer der Beerdigung aus und kommt nie wieder.
Jahre später erzählt unsere Mutter, dass dieses „nicht Wiederkommen“ abgesprochen war, dass er anrufen sollte, sobald er drüben ist – bei “gutem Wetter” bleibt er, bei “schlechtem Wetter” kommt er zurück. Es war gutes Wetter. Als er anruft, sitz er in einem “Notaufnahmelager” kurz hinter der Grenze. Dort verbringt er einige Wochen in Doppelstockbetten in einem Sechser-Zimmer – er, seine Eltern und drei fremde Menschen. Mehr werde ich über diese Zeit nie erfahren. Ich habe also nur meine eigene Erinnerungen, meine eigenen Emotionen.
Nur zwei weitere Menschen wussten von diesem Plan. Das waren nicht meine Schwester und ich, sondern Menschen, denen meine Eltern ihr Leben anvertraute – und das ihrer Kinder.
Als mich später immer wieder Menschen auf das sogenannte Begrüßungsgeld ansprechen (”Was ich denn als 6jährige mit den 100 DM angestellt hätte…?”), habe ich immer wieder dieses Bild im Kopf, wie mein Vater mit nichts in einem fremden Land sitz und meiner Mutter am Telefon versichert, dass „gutes Wetter“ sei, das Codewort, damit sie weiß, dass er bleiben wird. Und wie ich selbst am 23. August 1989 aus dem Zug steige und meinen Vater nach zwei langen Jahren wiedersehe. Ein Wessi-Kommentar, der mir bis heute im Halse stecken bleibt und pure Übelkeit hervorruft. Und ich habe auch nach über dreißig Jahren keinen flotten Spruch, den ich darauf antworten könnte.
Was verborgen bleibt ist, dass meine Eltern damals, mit 26 und 31 Jahren entschieden haben, einfach alles in ihrem und meinem Leben zu verändern – mit ungewissem Ausgang, aber enormer Zuversicht und dem Drang nach Freiheit – für ihre Kinder. Beides trägt mich durch mein Leben, durch jede Krise und jedes Glück.
Meine Mutter versicherte mir im Laufe meines Lebens oft, dass sie die Erste sei, die mir helfen würde all mein Hab und Gut außer Landes zu schaffen, wenn es sein muss. Sei es wegen des politischen Klimas oder wegen persönlicher Umstände. Sie gibt mir die Unterstützung, den Halt, den sie in diesen zwei langen Jahren so sehr vermisste.
Das, was mich diese Zeit sehr früh gelehrt hat: Menschen verhalten sich systemkonform. Aber die Liebe bekommt man nicht aus ihnen – auch keine Diktatur, die sich mit sozialistischen Federn schmückt.
Take me to the magic of the moment
Scorpions mit „Wind of Change”
On a glory night
Where the children of tomorrow dream away
In the wind of change
Walking down the street
Distant memories
Are buried in the past, forever